Ein Projekt von Wolfgang Thomas & Micky Pega

Rolf Rosenkranz

Treffen mit "Peggy Sue" beim "Zappen" auf Mittelwelle


1960: Schüler der Untertertia des Löhrtor-Gymnasiums. Der Beginn meiner 60er Jahre - mit den ersten drei Langspielplatten von Buddy Holly, der kurz zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Meine Erinnerung an eine Zeit, in der es zuvor außer dem Gewinn der Deutschen Amateur-Meisterschaft der Sportfreunde Siegen (1955) nur wenig Aufregendes im Leben eines Pennälers gegeben hatte.

Dann aber begannen die frühen 60er. Noch galt es in ihren frühen Anfängen in Kino und Radio dem deutschen Kulturgut zuzuhören ("Komm ein bisschen mit nach Italien") oder deutsches Film(mach)werk zu konumieren ("Der Förster vom Silberwald"). Einfache Schlager und deren Interpreten präsentierten eine Welt des Guten und Anständigen. Manchmal aber - beim "Zappen" auf Mittelwelle - stellten sich Klänge ein, die verwirrend faszinierend waren: "Peggy Sue"/"Roll over Bethoven"/"Hello Josephine". Abseits des meistens von den Eltern beschlagnahmten Plattenspielers gab es auf dem ausgeliehenen Kofferradio die Gelegenheit, einer anderen Musik zu lauschen, die nicht den sittsamen Wunschträumen der Erwachsenen entsprach. Wie faszinierend und aufregend war es - die Eltern besuchten derweil im "Charlotten-Kino" (heute das Salz-Depot für die kalte Jahreszeit auf unseren Straßen) den neuesten Kino-Hit: "Zorro der Rächer" - wenn sich dann abends auf dem Zehn-Plattenspieler die neuen Helden ihr Stelldichein gaben: Joey Dee/Little Richard/The Platters.

Dann der Tag X. An einigen wenigen Tagen im Frühjahr und im Herbst zog sie in die Stadt: die Kirmes. Bevorzugter Ort für viele von uns: die Raupe. Da gab´s keinen Freddy/Peter Alexander, sondern nur: Ricky Nelson/Percy Sledge/Roy Orbison. Eine Musik tat sich auf: Man summte mit, schlug mit den Füßen den Takt, wagte es - mitzutanzen. Nicht die Schritte, die man als Schüler der berühmten Tanzschule am Effertsufer gelernt hatte, nein - irgendwie ganz anders, gar nicht so richtig, sich vor den Augen der Schülerinnen des Mädchengymnasiums nicht blamieren - die waren selbstverständlich auch "Raupengänger".

Nur Zehn Minuten den neuen Klängen lauschen


Da war sie, unsere neue Welt: mit einer neuen/schlagenden Musik, mit der es galt, Frust, Ärger, Liebeskummer und Schulstress zu besiegen. Die Zeit war die schönste, in der wir ohne die Erlaubnis der Eltern Orte aufsuchten, an denen es sich lohnte, auch nur für zehn Minuten den neuen Klängen zu lauschen: Hundehütte – Top Ten – Partyclub – Moulin Rouge (= Oldtimer) – Studio D – Wendels Stuben. Für die Eltern Orte der Verdammnis, der "zwielichtigen Gestalten" mit der "Urwaldmusik", der "Langmähnigen". Für uns aber: Treffpunkte ungeheurer Faszination, dunkel, in rotes Licht getaucht, vollgepackt mit Rock’n’Roll Music, der Möglichkeit zu flippern, Meister im Tischfußball zu werden. Einmal in der Woche: Der Gesangswettbewerb im "Party Club" in der Nähe des Schlachthofs. Nur mit der Eigeninterpretation von "Corinna Corinna" gewinnt man hier den 1.Preis: die große Flasche mit dem billigen Fusel – ein Beweis dafür, endlich erwachsen zu werden. Die Aschenbecher voller Kippen, und auf der "kleinsten Beat-Bühne der Welt": The Maggots, Casey Jones & The Governors, The Liverbirds. Davor die Tanzfläche: "Let’s twist again" – wer in Aussehen und Verhalten der coolste ist, wird Sieger.

Wieder auf dem Heimweg: Pause in der Eintracht – die Siegerlandhalle steht erst kurze Zeit. Die Parkbank mit den Gleichgesinnten wartet: einer mit einem Kofferradio (AFN – 16.05 to Nashville – am Morgen ist Jim Reeves gestorben).. einer mit dem so begehrten, aber für mich nicht erschwinglichen Uher- Tonbandgerät, einer mit dem Koffer- Plattenspieler. BFBS, Radio Caroline mit den Top Ten: The Merseybeats, Bily J. Kramer & The Dakotas. Die neue Nr. 1 – endlich mal nicht die Beatles, sondern "Glad all over" mit The Dave Clark Five.

"Nachspielzeit" bis in den frühen Morgen


Dann Pause: Die 70er. Die Musik ändert sich. Das eigene Leben auch: Studium, Beruf, Familie. Und: die "nostalgische Rückerinnerung" an die "Oldies but Goldies". Zusammen mit der WR beginnt in den 80ern der Versuch, die alten Zeiten wieder zurückzuholen. Die "Siegener Oldie Night" ist für über zehn Jahre Treffpunkt aller jungen und alten Oldies. Von ganz wenigen Ausnahmen treffe ich die Größen der Beat-Zeit persönlich bei ihren Konzerten in der Siegerlandhalle, bereite ihren Auftritt vor, sorge für dieGetränke – Bier ist immer noch ihr Lieblingsgetränk -, wähle die Hotels aus, in denen sie – wie in den 60ern – ihre "Nach-Konzerte" geben. Die "Lords" und die "Rattles" als die nicht mehr so ganz nüchternen Beat-Stars der Vergangenheit. Die Rattles beginnen in Siegen mit Achim Reichel eine Deutschland-Tour. Vieles aus alten Zeiten kehrt für einige
Stunden zurück. Ich frische mein Drei-Jahre-Schulenglisch noch mal auf ("Glad to see you") und erinnere mich mit ihnen an die Zeit, als die Musik noch mit der Hand gemacht wurde: Scott McKenzie, der – kürzlich verstorbene – John Phillips, Lord Ulli, The Searchers, Tony Sheridan, The Blue Diamonds und viele mehr – aber auch: The Watchmen/The Shotguns/The Oranien Street Sounders. Nach dem Konzert dann: das Treffen mit den Ehemaligen, den "Candlelight"- Besuchern von damals, oft von weither
angereist. Die alten Zeiten werden wieder heraufbeschworen. Die "Klause" der Siegerlandhalle wird zum Mekka der Ewig-Gestrigen. Die Nachspielzeit dauert bis zum frühen Morgen.

Heute: Lehrer im Dienste des Staates. Der eigene Musikgeschmack hat sich geändert, aber immer noch bleibt die Erinnerung an die 60er Jahre – mit einem verklärten Blick in den Augen und den Hits der Jugend im Ohr: "Love me do"/"In the midnight hour" – a-wop-bopa-loo-bop-a-lop-bam-boom.